Am kommenden Montag beginnt in Wimbledon das prestigeträchtigste Tennisturnier der Welt. Für die Einzelfinale möchte sich eine Deutsche ihren Traum erfüllen und sich den besten Platz im Stadion sichern. Die Rede ist von Miriam Bley, die erste und aktuell einzige deutsche Stuhlschiedsrichterin, die mit dem Gold Badge, der höchsten Auszeichnung im Stuhlschiedsrichterwesen im Tennis, ausgezeichnet wurde. Das war Ende 2019. Seither lebt sie als fester Bestandteil des Schiedsrichterteams der Women’s Tennis Association (WTA), der Profitour der Tennisspielerinnen, ihre Tennisträume.
Mit guter Leistung und Zielstrebigkeit zu Gold
Von ihrer Beförderung zum Gold Badge vor fünfeinhalb Jahren hat Miriam Bley per E-Mail erfahren. Vor Unglauben machte sie die elektronische Post immer wieder auf und zu, erzählt sie im Interview, das wir bei den Berlin Tennis Open mit ihr führen dürfen. Ganz zufällig kam der Karriereaufstieg aber nicht. So wurde sie über das Jahr immer wieder positiv von anderen Kollegen evaluiert und hatte zudem gute Matches bekommen, erklärt sie. Sie habe darauf hingearbeitet und es hat sich ausgezahlt. „Es ist die Honorierung von der geleisteten Arbeit über Jahre hinweg, Kontinuität, Präsenz zeigen, mit den Aufgaben wachsen. Man lernt nie aus“, gibt sich die Deutsche zielstrebig und bescheiden. Als die Nachricht dann ins Bewusstsein durchsickerte, war die Freude riesengroß.
„Es ist die Honorierung von der geleisteten Arbeit über Jahre hinweg, Kontinuität, Präsenz zeigen, mit den Aufgaben wachsen. Man lernt nie aus.“
Miriam Bley über den Erhalt des Gold Badges
Damals arbeitete Bley noch in ihren turnierfreien Wochen als Kellnerin in ihrer Heimat Würzburg und ging an dem Tag noch arbeiten. Natürlich haben sich ihre Kollegen, die mit Tennis wenig zu tun hatten und den Begriff Badge nicht kannten, über ihre „Goldmedaille“ gefreut, lacht Bley. Heute kellnert die 40-Jährige nicht mehr und fokussiert sich auf ihre Arbeit als Stuhlschiedsrichterin im Profitennis.
27 Wochen im Jahr unterwegs – am liebsten in Italien
27 Wochen ist sie mindestens im Jahr für die WTA und gelegentlich auch für die ATP, der Herrentour, im Einsatz. Die vier Grand Slam Turniere zählen nicht dazu und kommen noch obendrauf, da die Schiedsrichter sich dafür separat bei der International Tennis Federation (ITF) bewerben müssen.
Wer bei den 27 Wochen im Jahr an eine klassische Arbeitswoche denkt und die restlichen 25 Wochen als Urlaub verbucht, der irrt. Für Schiedsrichter starten die Turniere in der Regel am Freitag und enden in der darauffolgenden Woche Montag, umfassen entsprechend mit An- und Abreise insgesamt elf Tage. Kommen wie dieses Jahr bei der Deutschen alle vier Grand Slams dazu, erhöhen sich die Wochen. Die Reiseorganisation übernimmt Bley selbst. Ganz klassisch hat sie ein Reisebudget von ihrem Arbeitgeber, das je nach Zielort höher oder niedriger ausfällt. Um das Hotel kümmert sich die WTA. Und auch die Turnierkleidung wird gestellt. Bei den Grand Slam Turnieren gibt es jedes Jahr neue Uniformen, außer in Wimbledon. Dort werden die Schiedsrichter einmal ausgestattet und anschließend bringt jeder seine Kleidung jedes Jahr wieder mit. So reist Bley aktuell mit mehr Gepäck als üblich, da es nach Berlin zum Turnier nach Bad Homburg und anschließend nach London geht.
Auf ihre Einsatzorte hat Miriam Bley wenig Einfluss. Das entscheidet ihre Chefin, die aber durchaus von der Italien-Liebe ihrer Angestellten weiß. Kurzfristige Anfragen für italienische Turniere sind bei der Deutschen daher gern gesehen. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Bley das Turnier in Rom als eines ihrer Lieblingsturniere ausmacht – und Båstad in Schweden, denn dort hatte sie ihren ersten internationalen Einsatz als Bronze Badge. Und die Grand Slams? Da hat Wimbledon die Nase vorn: „Wimbledon ist natürlich die oberste Tradition, die es gibt. Das war mein Kindheitstraum auf diesen Center Court zu kommen.“

Trotz der vielen Reisen zu den schönsten Orte der Welt ist der Beruf des Stuhlschiedsrichters Arbeit. Die Zeiten, als ihre Freunde noch dachten, sie sei die ganze Zeit im Urlaub, sind längst vorbei, berichtet Bley. Generell wisse sie aber wenig über das Außenbild von Schiedsrichtern: „Ich weiß gar nicht, wie das Bild eines Schiedsrichters ist. Alle, mit denen ich unterwegs bin und auch meine Familie, die wissen das mittlerweile.“
Viel Arbeit, wenig Urlaub
Stuhlschiedsrichter zu sein umfasst mehr Aufgaben als den besten Platz im Stadion zu haben und die Ergebnisse anzusagen. So muss im Vorfeld geprüft werden, ob genügend Bälle für das Match vorhanden sind sowie genug Getränke und Handtücher für die Spieler bereitstehen. Die Handtuchboxen des vorherigen Matches müssen leer sein und die Technik, wie z. B. das Live Electronic Line Calling und die Verbindung zur Ergebnis-App, auf ihre Funktion geprüft werden. Hinzukommen administrative Aufgaben, wie Meetings und die Evaluierung andere Schiedsrichter.
„Da muss ich zehn Minuten alleine sein und dann kommt man in einen Tunnel rein.“
Bley über ihre Nervosität vor einem Match
Auch die eigene Vorbereitung kommt hinzu. Dabei macht sie sich mit dem Platz und seinen Begebenheiten vertraut. Zusätzlich muss sie mit ihrer eigenen Nervosität umgehen, die sich bei großen Matches kurz vorher bemerkbar macht. „Da muss ich zehn Minuten alleine sein und dann kommt man in einen Tunnel rein.“ Das Drumherum auf dem Platz blende sie dann aus, so Bley.
Insgesamt bleibt trotz der vielen Reisen rund um die Welt kaum Zeit für touristische Aktivitäten. Abhängig sei das auch von der Lage des Hotels: „In Berlin und Paris sind wir etwas weiter außerhalb, da hat man abends keine Lust noch rauszugehen. In New York sind wir in Manhattan, da gehen wir schon mal raus.“ Manchmal können die Tage aber auch lang werden. Dann verbringe sie bis zu zwölf Stunden auf der Anlage. Über mehrere Stunden muss sie hochkonzentriert sein, die Lichtverhältnisse ändern sich, die Wetterbedingungen können schwierig sein. Da ist sie abends froh, einfach in das Hotel zu gehen und abzuschalten. Einem Kollegen hat sie aber dennoch Freitagmorgen vor Dienstbeginn das Brandenburger Tor gezeigt, verrät Bley. Generell versteht sich die Deutsche sehr gut mit ihren Kollegen und Kolleginnen. Das sei wichtig, da man viele Wochen im Jahr zusammen ist. So sind über die Jahre Freundschaften entstanden. Oft isst man abends zusammen. Ansonsten steht Lesen nach einem langen Arbeitstag bei ihr hoch im Kurs.
Trotz der vielen Reisen gibt es für Bley, die aus einer tennisbegeisterten Familie stammt und so erst zur Spielerin und dann zur Stuhlschiedsrichterin wurde, noch Orte, die sie besuchen möchte. „Ich wollte immer zum Turnier nach Usbekistan, da man dort nicht in den Urlaub hinfährt. Das Turnier gibt es leider nicht mehr,“ bedauert sie. Auch für die Turniere in Südamerika sowie Rabat/Marokko und in Chennai würde sie gern einmal zugeteilt werden. Chennai liegt in Indien, dort wo Miriam Bley 2010 den Grundstein ihrer internationalen Karriere legte.
Zufrieden mit der Gleichberechtigung im Tennis
Der Karriereweg von Schiedsrichtern im Profitennis ist lang. Mit ausreichend Erfahrung auf nationaler Ebene und dem sogenannten White Badge, das einem international die Türen öffnet, bewerben sich die Schiedsrichter an den sogenannten Level 3 Schools, wo sie das Bronze Badge erhalten können. Dieses Badge ist die Basis für eine professionelle und internationale Schiedsrichtertätigkeit. Bley besuchte die Level 3 School in Neu-Delhi. Vier Tage wurde gepaukt und geprüft. Erfolgreich, denn am Ende winkte Bronze.
Nach Erhalt des Bronze Badge streben die Schiedsrichter erst nach Silber und anschließend nach Gold. „Es ist definitiv etwas, worauf jeder Schiedsrichter hinarbeitet,“ ist sich die Würzburgerin, die 2015 die Beförderung zum Silver Badge erhielt, sicher. Doch nur wenige wie Bley erreichen auch das höchste Level im Stuhlschiedsrichterwesen, über das am Ende eines jeden Jahres gemeinsam von der WTA, der ATP und der ITF entschieden wird. Aktuell haben 14 Frauen und 22 Männer das Gold Badge inne. Das Ungleichgewicht sieht Bley weniger in der Benachteiligung von Frauen als vielmehr darin, dass es grundsätzlich weniger Frauen im Schiedsrichterwesen gibt.

Während ihrer Ausbildung waren sie fünf Frauen von ca. 20 Teilnehmern. Über die Jahre sei der Anteil an Frauen in den Schulen aber gewachsen, versichert sie. Die Entwicklung der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau im Schiedsrichterwesen sieht Bley positiv: „Die ATP hat mittlerweile weibliche Schiedsrichter, bei uns sind einige Männer im Team.“ Generell stärke die WTA Frauen auf der Tour. Zusätzlich gibt es zusammen mit der ATP ein Joint Development Team, das aus drei männlichen und drei weiblichen Schiedsrichtern besteht.
Und wie steht es um die weiblichen Schiedsrichter in Deutschland? „Es könnte generell besser sein,“ sagt Bley und möchte dem Nachwuchsmangel kein Geschlecht zu ordnen. Grundsätzlich fehle es in Deutschland an Nachwuchs, sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen. Eine Ursache sieht sie im Live Electronic Line Calling, das bei vielen Turnieren die Linienrichter ersetzt. Oft starten Schiedsrichter ihre Karriere als Linienrichter und wechseln später auf den Stuhl. Dies falle nun weg. Manche beenden zudem erst ihr Studium, bevor sie sich einer Karriere als Schiedsrichter widmen. Zur Lösung nimmt Bley vor allem die Verbände in die Pflicht, aber auch mehr Werbung an Hochschulen und Tennisclubs wäre zur Rekrutierung des Schiedsrichternachwuchses hilfreich.
Unterstützung für den Nachwuchs
Bley, die selbst viel Unterstützung in ihrer Karriere von ihrem bayrischen Heimatverband, erhalten hat, engagiert sich ebenfalls. „Man sollte nie vergessen, wo man herkommt. Ich wäre nicht da, wo ich bin, ohne die Unterstützung anderer.“ Obwohl sie als Mitglied des ersten WTA-Teams hauptsächlich Turniere der 1000er und 500er Kategorien begleitet, ist sie gelegentlich bei kleineren Turnieren dabei. Dort schaut sie sich den Nachwuchs an, hilft und coacht. Gleichzeitig ist sie auf der Tour jährlich Mentorin für einen Nachwuchsschiedsrichter oder einer -schiedsrichterin.
„Man sollte nie vergessen, wo man herkommt. Ich wäre nicht da, wo ich bin, ohne die Unterstützung anderer.“
Bley über ihr Engagement für den Schiedsrichternachwuchs
Die Nachwuchsförderung ist eine Herzensangelegenheit für sie. „Obwohl es zeitintensiv ist, ist es unheimlich wichtig, etwas zurückzugeben, was man selbst erfahren hat.“ Als Mentorin fungiert Miriam Bley als erste Ansprechpartnerin, tauscht sich regelmäßig mit der Person aus und gibt hilfreiches Feedback. Zudem wird sie regelmäßig vom Bayerischen Tennis Verband angefragt, ob sie bei Schiedsrichterseminaren dabei sein möchte. Zwar habe sie in 90 Prozent der Fälle keine Zeit, freue sich aber jedes Mal, wenn es dann doch einmal klappt.
Auf ihren Erfolg blickt sie bodenständig: „Nur weil ich dieses Gold Badge habe, bin ich kein besserer Mensch, es ist nur eine Auszeichnung für langjährige Arbeit.“ Passend dazu sieht sie sich weniger als Vorbild, sondern viel mehr als Beispiel, das „mit viel harter Arbeit, Durchhaltevermögen und guter Leistung einem alles offensteht.“ Generell wünsche sie sich mehr Aufmerksamkeit für ihren Beruf als Stuhlschiedsrichterin, aber keine Aufmerksamkeit für sich als Person. Erkannt wird sie selten. Das sei auch gut so, sie stehe nicht gern in der Öffentlichkeit.
Lieber Tennis und Reisen statt Lehramt
Ihre Bescheidenheit wird auch deutlich, als sie über ihre Freizeitgestaltung abseits der Tour spricht. Die turnierfreien Wochen verbringt sie am liebsten zu Hause, wo sie ihrem kleinen Neffen jedes Mal erklärt, wer sie ist, „weil er immer nicht mehr weiß, wer ich bin“, schmunzelt Bley. Zu Hause ist in Bayern, wo sie die Zeit mit ihrer Familie und ihren Freunden teilt und ihre Wohnung genießt. Dabei stehen alltägliche Dinge, wie Wäsche waschen, im Supermarkt einkaufen gehen und anschließend kochen ganz oben auf der To-Do-Liste. Was für andere normal ist, ist für sie eine Besonderheit, da sie auf der Tour dazu keine Gelegenheit hat. Darüber hinaus joggt sie gern. Zum Schläger greift Bley nur noch höchstens einmal im Jahr. „Ich würde schon gern mehr spielen, aber da müsste ich mehr trainieren, weil ich mich sonst einfach zu sehr ärgere“, gesteht sie.
Ihre Familie, die sie immer wieder erwähnt, ist ihr wichtig. Zwei Brüder hat sie, ihr Vater ist ihr größter Fan. Manchmal kommen sie zu ihren Turnieren. Bley entstammt einer Lehrerfamilie. Eigentlich wollte sie Journalistin werden, dafür benötigte sie nach dem Abitur ein Volontariat und Kenntnisse in einer zweiten modernen Fremdsprache. Ihr Schullatein half da nicht weiter. Also studierte sie nach einem Jahr als Au-Pair in England Englisch und Sport auf Lehramt und schloss das erste Staatsexamen ab. Als Lehrerin sieht sich die Würzburgerin aber nicht. Die festgefahrenen Strukturen seien nichts für sie, gibt Bley ehrlich zu. Da müsse ganz viel schieflaufen, dass sie Lehrerin würde. Da gegen spricht sowieso ihre Passion für Tennis und die Liebe zum Reisen, die sich perfekt als Schiedsrichterin miteinander verbinden lassen.
Der große Traum vom Grand Slam Finale
Nun reist sie zum Grand Slam Turnier nach Wimbledon, an das sie gute Erinnerungen hat. Bley, die sehr selbstkritisch an ihre Arbeit rangeht und sich nach jedem Match hinterfragt, hatte 2023 auf dem heiligen Rasen in London ihr bestes Match. „Es ist mir ein einziges Mal passiert, dass ich vom Stuhl runtergekommen bin und dachte, das war das perfekteste Match meiner Karriere“, erinnert sie sich. Gemeint ist das Damen-Halbfinale zwischen Ons Jabeur und Aryna Sabalenka. Es sei ein Traum gewesen, dieses Match zu machen, schwärmt Bley auch zwei Jahre später noch. Der Center Court, die Zuschauer, die Spielerinnen, die Linienrichter und ihre eigene Leistung, alles hat an diesem Tag gepasst.

Seither hat sich Miriam Bley weitere Kindheitsträume erfüllt. Nach guten Leistungen bei den Olympischen Spielen in Paris im vergangenen Jahr, wo sie unter anderem Rafael Nadals letzten Auftritt auf dem Court Philipp Chatrier im Doppel an der Seite von Carlos Alcaraz schiedste, wurde Bley für das Mixed-Finale eingeteilt und war ganz aus dem Häuschen: „Das war auch ein ganz großer Traum von mir. Man fragt sich immer, funktioniert es, funktioniert es nicht, und letztes Jahr hat es funktioniert. Das konnte ich nicht glauben. Man möchte immer auf dem Platz gute Leistung bringen und es ist schön, dass es dann honoriert wurde.“
„Ich war eine Grinsekatze bis obenhin.“
Bley über ihr erstes Grand Slam Finale
Paris hat sich als gutes Pflaster für die Erfüllung ihrer Träume erwiesen. In diesem Jahr durfte sie als erste Deutsche ein Grand Slam Finale leiten. „Ich war eine Grinsekatze bis obenhin“, freut sich Bley auch zwei Wochen später noch. Für das Damen-Doppelfinale bei den French Open reiste extra ihr Bruder aus Deutschland an. Genießen kann Bley solche Matches allerdings erst im Nachhinein. Während der Matches sei sie immer angespannt und konzentriert.
Gibt es bei so viel Erfolg überhaupt noch Träume? „Ja, ich würde natürlich gerne einmal ein Einzelfinale bei einem Grand Slam Turnier machen. Da wäre Wimbledon mein Favorit“, verrät sie zum Schluss. Es wäre keine Überraschung, wenn auch dieser Traum in Erfüllung ginge.